Das kleine Verliebtsein
Es kommt hereingesprungen und wirbelt dabei jede Menge Staub auf.
Ahnend schaut sie von ihrem Buch auf und es freundlich an: „schon wieder?“.
„Du wirst es nicht glauben…“, ereifert sich das kleine Verliebtsein, seine Stimme überschlägt sich vor Begeisterung. Sie nickt nur wissend.
„Ist das nicht wunderbar? Das Leben ist schön – so bunt, und aufregend…“ es tanzt durchs Haus, ergreift die Vase mit den Rosen und dreht dabei Pirouetten . „Vorsicht“, sagt sie vorausschauend: „Stell das bitte zurück – es ist zerbrechlich!“. „Riech doch mal! Ist das nicht toll?!“ „Ja, natürlich“, bestätigt sie und widmet sich wieder ihrem Buch.
Das kleine Verliebtsein stellt die Vase zurück und stopft sich breit grinsend ein zuckrig-klebriges Petit Feur in den Mund. Mampfend neckt und stichelt sie: „Du bist doch nur eifersüchtig!“. Jetzt legt sie ihr Buch weg und schaut es aufmerksam an: „Meinst Du?“, fragt sie betont langsam, ohne im Geringsten gekränkt zu sein. „Na klar. Schau dich doch an!“. „Was stimmt denn nicht mit mir?“. Es zuckt mit den Achseln: „Wann hast du das letzte Mal etwas Aufregendes erlebt? Wann bist du zuletzt draußen gewesen?“ „Ich fühle mich sehr wohl hier.“. “… oder hast dir ein neues Kleid gekauft? Ein attraktives, buntes, so wie meines.“ „Ich habe alles, was ich brauchte“, antwortet sie bescheiden.
Es flattert wie ein Schmetterling um sie herum. „Könntest du das bitte lassen, du machst mich ganz nervös“. „Siehst du! Das meine ich!“ Jetzt landet ein großes Stück rosafarbener Zuckerwatte in seinem Mund. Es gluckst dabei vor Vergnügen. Dann reißt es beherzt die Vorhänge auf: „Du musst mehr Licht und Sonne in dein Leben lassen!“
„Muss ich das?“, amüsiert mustert sie das kleine Verliebtsein in seinem farbenfrohen Kleid. „Wer ist es denn diesmal?“, fragt sie mit einem leicht belustigten Unterton in der Stimme? „Kenne ich ihn … oder sie?“.
„Er“, sagt es und dehnt das Wort dabei so lang wie möglich aus: „ist überwältigend. Und sie“, wieder verlängert es jeden einzelnen Buchstaben, „ist etwas ganz besonders!“ „Aha!“ Sie schaut es gütig an: „Wir werden ja sehen…“.
„Ich habe ein gutes Gefühl diesmal“, sagt es optimistisch. „Ich bin gespannt!“ erwidert sie aufrichtig. Sie nimmt sich ein Stück Brot vom Teller und kaut bedächtig. „Jedenfalls freue ich mich für Dich. Es ist schön, dich so zu sehen!“. In diesem Moment leuchten und funkeln ihre Augen genauso wie seine. Für einen Augenblick sind sie sich nah und vertraut.
Das kleine Verliebtsein greift zum dritten Stück Feingebäck und schaut sich oberflächlich um: „Eigentlich hast du es ganz schön hier. Etwas monoton vielleicht. Ich frage mich, ob das bei mir auch einmal der Fall sein wird.“ „Ganz bestimmt“, antwortet sie mit Überzeugung und nimmt ihm dabei zärtlich die rosarote Brille ab. „Vielleicht kannst du nun mehr Facetten erkennen.“ Und: „Du wirst dich entwickeln und sortieren und irgendwann genauso aufgestellt sein, wie ich“.
„Und Du?“, fragt das kleine Verliebtsein „wie bist Du hierhergekommen? Wann hast du all das … alte Zeug hier angesammelt?“. Sie mustert das kleine Verliebtsein eindringlich, bevor sie antwortet: „Ich war wie Du. Na ja, eigentlich bin ich ja du. Oder Du bist zumindest ein Teil von mir. Das macht das Ganze etwas kompliziert – oftmals werden wir beide miteinander verwechselt und das wird keinem von uns beiden gerecht!“. Dem kleinen Verliebtsein steht vor Überraschung der Mund offen und ein großer Klecks Sahnecreme tropft ihm vom Kinn, ohne dass es dies bemerkt. „Ich meine,“ sagt sie und tupft dem kleinen Verliebtsein unterdessen die antrocknende Tortenfüllung aus dem Gesicht: „wir haben beide unsere Berechtigung und können nicht ohneeinander. Ich bin dir dankbar, dass du immer mal wieder vorbeikommst und mich erinnerst. Der wesentliche Unterschied zwischen uns ist, dass, während du scheinbar einfach passierst, ich eine bewusste Entscheidung bin.“
Sie gibt dem kleinen Verliebtsein einen Augenblick Zeit, um das Gesagte zu verstehen. „All das ‚alte Zeug‘, wie du es nennst, ist über Jahre angewachsen. Was sich bewährt hat, habe ich zu schätzen gelernt. Alles hat für mich eine wichtige Bedeutung. Ich bin dankbar für viele kostbare Momente und bewahre mir Andenken und Schätze. Ich hüte und beschütze, was mir lieb und teuer ist. Ich trage und pflege. Ich bin immer da, bin beständig, glaube und hoffe alles, ich gebe nicht auf, sondern ertrage alles und halte allem Stand.“
Das kleine Verliebtsein kräuselt sein Näschen: „Das klingt selbstlos … und anstrengend!“. „Da ist es wert!“. „Und wenig erstrebenswert. Was hast du denn davon?“ „Alles!“
Und nach einer kurzen Pause erklärt sie: „Ich bin wie dieses Stück Brot: einfach vielleicht, aus deiner Sicht: langweilig. Tatsächlich aber Kraft gebend und sättigend. Das, was es wirklich braucht. Ich gebe zu, es gibt Tage, da fällt das Kauen schwerer, aber dann, wenn man dranbleibt und sich ein bisschen Mühe gibt, entfaltet sich der süße, anhaltende Geschmack. Brot kannst du jeden Tag essen, ohne dass du dich daran überisst oder Bauchschmerzen bekommst. Es ist die Basis der Existenz – so wie ich. Ohne Brot, ohne mich geht es nicht.“
Das kleine Verliebtsein legt das fluffige Stück Kuchen mit den kandierten Früchten langsam auf den Teller zurück. „Ist dir der Appetit vergangen? Das tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Genieße deinen Kuchen, auch ich gönne mir hin und wieder ein Stück, aber sehe ihn nicht als Lebensgrundlage.“
„Wenn ich genau überlege…“ resümiert das kleine Verliebtsein traurig „dann sind er und sie vielleicht doch nicht so großartig, wie ich dachte…“. Sie lächelt ermutigend: „Das gilt es herauszufinden – lass dir Zeit damit und schaue, ob deine Gefühle erwidert werden. Und dann, wenn ihr den nächsten Schritt gemeinsam geht, beginnt eure Reise und du wirst ich – dann wird aus Verliebtsein Liebe.
Zwei ungleiche Schwestern
„Komm weiter!“, lacht die Schöne mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen und hüpft beschwingt voran. „Es hat doch keinen Sinn“, erwidert die andere. Schwere Taschen drücken auf ihre Schultern. Mühsam schleppt sie sich weiter, bleibt stehen.
„Nicht aufgeben“, ermutigt die eine, „ich kann das Ziel schon sehen!“ Ihre Visionen sind groß, ihr Vertrauen noch größer. „Ich nicht“, widerspricht die andere kleinlaut und niedergeschlagen. Sie steht krumm und gebückt und blickt stirnrunzelnd auf ihre staubbeschmutzten Schuhe. Verzweiflung spiegelt sich in ihren leeren Augen.
„Ich kann dir tausend Gründe nennen“, verlockt sie und sieht die Möglichkeiten, vertraut auf das Zukünftige, vermutet das Gute darin. „Ich auch“, seufzt die andere resigniert und greift in eine ihrer Taschen. Einen schweren Stein kramt sie stöhnend hervor; dunkel, hart und kalt. Er rollt der Hoffnung vor die Füße, die ihm geschickt ausweicht: „Na und?“, fragt diese voller guter Absicht und: „Schleppst du noch mehr davon mir dir herum? Sorgen, Ängste und Bedenken? All die Bürden, belastenden Gedanken und schmerzhaften Erfahrungen? So viel an Elend und Enttäuschung! Schau, wie sie dich beschweren. Sie halten dich nur auf, stelle sie ab!“
Sie nimmt die fahle Hoffnungslosigkeit bei der Hand. „Lass uns gemeinsam gehen! Ich kenne den Weg. Dort hinten, wo es heller wird, da gehe ich mit dir hin!“ Die Hoffnungslosigkeit wischt sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel. „In Ordnung, ich gehe mit.“
Die Hoffnung lächelt. Die Taschen bleiben zurück.
Nichts anzuziehen
Glanz und Gloria hängen, dicht gedrängt, neben Sack und Asche. Das kleine Schwarze drückt sich, elegant wie immer, vorbei und verschwindet hinter einem casualurbanen Hosenanzug. Hier treffen sich Anmut und Schönheit zwischen bequemer Zweckmäßigkeit und schlichtem Alltagschic. Ich trete einen Schritt zurück und überschaue die, längst über die Kapazität meines Kleiderschrankes hinaus angewachsene, Menge an Kleidungsstücken, trotz derer ich heute wieder nichts anzuziehen weiß. Hier hängt weitaus mehr als nur zweckdienliche Kleidung. Vielmehr erstreckt sich hier ein Sammelsurium durch die Zeiten, ein Mix aus Stoffen und Materialen. Von angepasst über flippig bis konservativ, eine Abbildung meiner Gegenwart und der vergangenen, letzten Jahre, deren Erlebnisse, Hoffnungen und Gemütszustände.
Ich frage Google nach der aktuellen Temperatur, aber, auch wenn die monotone Frauenstimme auf meinem Handy mir ziemlich präzise den Wetterbericht für den heutigen Tag herunterleiert, das hilft mir in meinem Entscheidungsprozess nicht weiter. Ich schiebe die Kleiderbügel scheppernd vor und zurück. Farben und Möglichkeiten tanzen vor meinen Augen, dennoch ändert sich das Bild vor mir nicht. Ich könnte ja mal … ganz anders als sonst … und ziehe den Stapel mit den Röcken hervor. Oder lieber doch nicht. Ich werde hektisch, schiebe und ziehe schneller. Ein Geruchs-Potpourri aus Waschmittel, Lavendelsäckchen und meinem Lieblingsparfüm steigt auf und verflüchtigt sich langsam wieder, legt sich wie ein unsichtbarer Schleier über meine Klamotten.
Vielleicht sollte ich meine Kleidungsstücke neu ordnen und sortieren. Nicht wie bisher nach Jahreszeit, Wochentag oder Anlass. Vielleicht sogar sollte ich ein wenig ausmisten. Mich trennen. Die Sachen verschenken, spenden, weggeben, die seit langem schon ungetragen ihr Dasein fristen. An Menschen, die tatsächlich nichts haben, während ich viel zu viel von diesem ‚Nichts zum Anziehen‘ besitze. Eine Rüschenbluse rutscht vom Bügel. Ich erinnere mich an das Vorstellungsgespräch, zu dessen Anlass ich sie gekauft und getragen hatte. In welchem Jahr war das nochmal? Irgendwo muss es noch die dazu passende Hose geben. Ich weiß, dass ich sie sicher aufbewahrt habe, für den Fall, dass ich eines Tages wieder hineinpasse. Was sicherlich nicht heute ist, wie ich seufzend mit Blick auf meine Oberschenkel feststelle. Diese Hose ist leider nicht das einzige Kleidungsstück in dieser „irgendwann-passt-es-bestimmt-wieder“-Warteschleife. Tatsächlich besitze ich noch Klamotten aus Zeiten vor meiner Schwangerschaft. Unnötig zu erwähnen, dass mein Sohn letztes Jahr das Studium beendet hat. Aber die Hoffnung, in diesem Fall Klamotten von früher doch irgendwann wieder über die zwischenzeitlich deutlich weiblicher gerundeten Hüften zu bekommen, stirbt ja bekanntlich zuletzt. Und: „Jede Mode kommt irgendwann wieder“, weiß meine Schwiegermutter. Sie muss es wissen, war jahrelang in der Modebranche tätig. Aber ob das auch für die Trends der 90er gilt? „Wage doch mal rot“, höre ich ihren Ratschlag in meinem inneren Ohr, ohne ihn zu beachten. Und die Suche geht weiter.
Also ausmisten! Erinnere mich an den letzten „Wie bringe ich Ordnung in mein Leben“-Podcast und dem damit verbundenen Rat, sich nicht zu viel auf einmal vorzunehmen, sondern ein Teil nach dem anderen, nach dem Motto „Liebe ich es?“ oder „Was tut es noch für mich?“, zu überprüfen. Also greife ich wahllos und blind in die obere Schrankregion und bevor ich ihn sehe, haben meine Finger bereits die wollene Strickware erfühlt und erkannt: Ich hasse diesen Pullover! Er kratzt. Aber Tante Klara hat ihn mir gestrickt. Und Tante Klara mag ich sehr. Sie lebt heute im Pflegeheim. Stricken kann sie schon lange nicht mehr. Und sie kann sich nur schwer an mich erinnern, wie ich bei meinem letzten Besuch, bei dem ihre Hände unruhig und rastlos über die Bettdecke strichen, schmerzlich feststellen musste. Sicherlich also auch nicht an diesen Pullover. Anderseits habe ich ihn getragen, als besagter Sohn seine ersten, tapsigen Schritte gewagt hat. Da gibt es sogar ein Foto davon, wie er mir dabei strahlend in die Arme plumpst. Ich liebe diesen Pullover! Er darf bleiben.
Vielleicht sollte ich meine Klamotten nach Gefühlsverfassungen sortieren. Mit dem Kratzpullover als Anführer der Schuldgefühle. Dann wären da noch die Kleider der verpassten Gelegenheiten, dem Gefühl von Verpflichtet-sein oder einfach von melancholischer Erinnerung. Sie hängen direkt neben den unnötigen Fehlkäufen. Wie dem Cardigan, den ich aus einer Laune heraus mitgenommen habe, dem Rock aus der Kollektion eines angesagten Modelabels aus dem Outlet, der mir eigentlich gar nicht gefällt, aber fast um die Hälfte reduziert war. Die Hose, die ich mir zum Trost gekauft habe und der Mantel zur Belohnung. Aufgereiht an die Glücksmomente und guten Andenken, wie die Strickjacke, die ich mir im letzten Urlaub gekauft und dort abends getragen habe, weil die Nächte überraschend kühl waren, so wie das Glas Chardonnay, dass ich dort, auf der Strandpromenade, den Sonnenuntergang genießend, getrunken habe.
Jetzt fällt mir das gelbe T-Shirt in die Hände, auf dessen Etikett, welches noch immer dranhängt, vier verlockende, rote Buchstaben prangern, denen ich nicht widerstehen konnte. Dabei bin ich überhaupt nicht der Typ für Gelb. Ich bin auch nicht der Typ für schwarz. Höchstens für ein fröhliches. Trotzdem hängen und liegen unglaublich viele schwarze Kleidungsstücke in meinem Schrank. Weil irgendein gewiefter Designer einmal behauptete, schwarz mogle immer ein paar Pfündchen weg. Ich möchte diese Person wirklich gerne kennenlernen und sie vom Gegenteil überzeugen. Aber vielleicht funktioniert diese schwarze Magie einfach nicht bei mir. Trotzdem muss alles Schwarze bleiben. Schwarz geht immer. Und man kann ja nie wissen, wann die nächste Beerdigung ansteht.
Jetzt drängt die Zeit. Das T-Shirt von gestern kann ich schlecht nochmals anziehen, das würde meine Kollegin merken. Das Sommerkleid, das mir gerade in den Blick kommt? Nein, das hatte ich zu lange nicht mehr an. Sie würde mich fragen, ob es neu ist. Meine Jeans ist in der Wäsche, an meiner Lieblingsbluse fehlt ein Knopf. Ich hatte noch keine Zeit ihn anzunähen. Wie auch, wenn ich Stunden vor dem Kleiderschrank zubringe. „Oh, dich habe ich vermisst‘, sage ich zu dem samtweichen Cordkleid, welches sich hinter dem paillettenbestickten, traditionellen Dirndl, dem vermutlich teuersten Kleidungsstück in meinem Kleiderschrank, versteckt hat. Dazu noch Schal, Strümpfe und Schuhe in der gleichen Farbe. Voila. Geht doch! Der Tag kann kommen!
Trauer zu Besuch
Sie kam unerwartet.
Eigentlich kannten wir uns kaum – ich erinnere mich, dass sie mich früher schon mal aufgesucht hatte, nicht aber an ihre Hässlichkeit. Ich hatte sie erfolgreich verdrängt, die ganzen Jahre.
Nun steht sie hier, die gebrochene Alte, mit ihrem schrulligen Hut und dem abgetragenen Mantel und lässt sich nicht abwimmeln. „Ich bleibe eine Weile“, sagt sie und stellt wie selbstverständlich den abgewetzten Koffer in den Hausflur, als müsse ich sie nun aufnehmen. Lässt mir keine Wahl. Ob mir das Recht sei? Bevor ich recht überlege, hat sie sich breitgemacht. Sitzt auf dem Sofa, kruschtelt in meinen Schränken herum, dringt durch alle Ecken und Ritzen, wie gekipptes Parfüm. Schön ist sie nicht. Meine Versuche, sie zu ignorieren, scheitern. Sie scheint überall zu sein, versalzt mir jede Suppe. Sie ist ermüdend, aber lässt mich doch nicht schlafen. Komme ich selten und gerade zur Ruhe, kneift oder pufft sie mich mit ihren spitzen Ellenbogen unsanft in die Rippen. Am Tag weicht sie mir nicht von der Seite, nachts höre ich sie neben mir schnarchen. Sie säuselt mir ständig ins Ohr, aber Antworten auf meine Fragen gibt sie mir nicht. Selbst, wenn ich sie anschreie, bleibt sie stumm und verbohrt. Ihr Atem ist modrig, kalt und säuerlich, wie vergorene Milch und das Erste, was ich morgens nach dem Aufwachen wahrnehme und wovon mir übel wird.
Wir werden wohl keine Freunde werden. Zumindest nicht in diesem Leben. Überhaupt – das Leben scheint in ihrer Nähe ausgemerzt, regelrecht wie ausgestorben. Sie ist fade und blass und ihre Farblosigkeit färbt ab. Sie ist ein Paradoxon: Erinnert mich an alles, was ich gerade vergessen will, und verschleiert meine Wahrnehmung bei allem, was ich krampfhaft versuche in meinem Gedächtnis und fest zu halten. Sie rückt Dinge ins Dunkel, statt in ein neues Licht, verdreht meine Sicht. Hinter meinem Rücken kramt sie alte Sachen hervor, verrückt heimlich die Möbel, sodass ich mich ständig dran stoße. Dekoriert mein Zuhause um, verdreht mein oben und unten. Ich kann mich nicht an sie gewöhnen!
„Du musst sie zulassen“, haben sie mir geraten, „dann wird es einfacher.“ Einfach ist mit ihr gar nichts. Sie nimmt allen Raum ein. Kriecht in die kleinsten Spalten und hintersten Winkel. Bricht plötzlich heraus, wenn ich es am wenigsten vermute oder mich gerade vor ihr in Sicherheit wähne. Sie begleitet mich auf Schritt und Tritt. Selbst bei den alltäglichsten Dingen, wie zum Einkaufen, geht sie mit. Und als ob das nicht genug wäre, stiehlt sie mir regelmäßig die Luft zum Atmen, als hätte sie den Anspruch auf allen Sauerstoff in meiner näheren Umgebung gepachtet. Irgendwann ergebe ich mich. Höre auf, gegen sie anzukämpfen, die mich doch immer wieder aufs Neue, mal offensichtlich, mal unerwartet aus dem Hinterhalt überwältigt. Lasse mich neben ihr niedersinken und werde eins mit ihr. So sitzen wir wie ausgebeulte, alte Jogginghosen beieinander. Und während ich sie gewähren lasse, ihr widerwillig Platz in meinem Leben einräume und sie dabei genauer betrachte, entdecke ich plötzlich Wärme und Güte in ihren Augen. Und ihre geschickten Hände, die im Takt der Uhr Dinge erschaffen, die ich erst jetzt bemerke. Je mehr ich sie annehme und ihre Anwesenheit billige, umso besser kommen wir miteinander zurecht. Mir fallen neue Facetten an ihr auf. Seit sie ihr Haar nicht mehr streng zurückgekämmt und zusammengeknotet trägt, sieht sie milder, fast schon friedlich aus. Zur Freundin möchte ich sie aber nach wie vor nicht haben und sehne noch immer den Tag ihres Auszuges herbei.
„Gewöhne dich nicht an mich“, meint sie versöhnlich, „ich werde bald gehen, dich aber weiterhin besuchen. Meine Zahnbürste und den Mantel lasse ich hier.“, als bräuchte ich eine Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit oder sie einen Grund, zurückzukehren.
Und überraschend frage ich mich, wie es wohl ohne sie werden wird, als es abermals an der Türe klingelt: „Ich löse die Trauer ab“, erklärt er mit sanfter, tiefer Stimme. Sein Lächeln ist sympathisch, er kommt mir irgendwie bekannt vor. Sein Gepäck scheint leicht zu sein. Er reist mit Dankbarkeit und Trost. Und so geben sich, während die eine geht und der andere kommt, Trauer und Erinnerung die Klinke in die Hand und lächeln sich wissend zu.
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