Anatomie des Herzens
Das Herz ist ein faustgroßer Hohlmuskel. Er sitzt, üblicherweise, in der linken Körperhälfte, gut geschützt von den Rippen, im Brustkorb des Menschen. Von dort pumpt das Herz unermüdlich bis zu 80-mal in der Minute mit Sauerstoff angereichertes Blut durch den Körper; wir sagen dazu verzückt: es schlägt. Überhaupt ist unsere Vorstellung vom Herzen eher abbildhaft und romantisch verklärt; wir meinen mit dem Herzen zu lieben und schreiben ihm schwärmerische Gefühle zu. Dass das Herz ein majestätisches Organ sein muss ist offensichtlich, denn wie ein Palast besteht es aus Vorhöfen und Kammern. Was auch angemessen scheint, denn manch‘ einer vermutet den Sitz der Seele im Herzen. Einig ist man sich darüber nicht – manche verorten die Seele auch gerne mal woanders, während die Fachwelt sich über den Sitz der Psyche im Gehirn doch recht sicher ist. So nah am Kopf, da ist es mehr Haarspalterei denn Philosophie, ob zwischen Psyche und Seele ein Zusammenhang besteht, es nicht sogar Übereinstimmung gibt, geht doch ein geplagter Mensch, der einen Termin bei seinem Psychotherapeuten hat, im böshaften Volksmund auch zum Seelenklempner. Dass man, gemäß einem französischen Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte „ausschließlich mit den Herzen gut sieht“ ist inzwischen nahezu jedem hinreichend bekannt. Interessant ist, dass man mit dem Herzen auch hören kann, denn am Herz sitzen die sogenannte Herzohren.
Im Herzen kann sich Kammerflimmern oder ein Infarkt ereignen. Dass ein Herz brechen kann, steht in keiner medizinischen Abhandlung, aber dennoch nicht in Frage. Die Kammern des Herzens scheinen unbegrenzt und groß, denn, während in manchen Kammern wertvolle Erinnerungen lagern und für die Ewigkeit konserviert werden, ziehen anderswo immer wieder neuen Menschen ein, wachsen sich fest am Herzen, wie Kletterrosen an den Fassaden.
Manchmal muss eine Herzkammer ausgefegt werden: nach einer Enttäuschung oder wenn etwas zu Bruch gegangen ist. Ein Versprechen, eine Erwartung, eine Beziehung. Es kann sein, dass es dauert, bis diese Kammer so weit wiederhergestellt ist, dass wieder jemand oder etwas Neues einziehen kann. Dazu kann selbst ein studierter Kardiologe nicht viel beitragen. Erst wenn alle Bruchstücke losgelassen, die Wände neu tapeziert sind mit Vertrauen und Unvoreingenommenheit, wenn sich der Geruch der schlechten Erfahrung verzogen hat, dann ist das wieder möglich. Manche Kammern bleiben für lange Zeit verschlossenen: in ihnen lagern, sicher verwahrt, auf großen Stapeln wertvolle Erinnerungen. Öffnet sich eine solche Kammertür, flimmert und tanzt der bittersüße Staub des Andenkens im Licht der Erinnerung.
Es tut gut, dem Herzenspalast regelmäßig einen Besuch abzustatten und nach dem Rechten zu schauen. Noch besser: man stellt das Herz unter fremde Verwaltung. Diese regelt alle Ein- und Auszüge, verriegelt und öffnet Kammern und Herzenstüren, wie es gerade nötig ist. Den Verwalter meines Herzens stelle ich mir in selbigen mittig auf einem Thron sitzend vor. Ihn kann ich regelmäßig nach dem Zustand meines Herzens befragen. Auch gibt er mir Einschätzungen und Ratschläge. Seine Maßstäbe sind wertvoll, tadellos und vollkommen. Er ist es, der mein Herz zum Hören, zum Sehen, zum Fühlen bringt und den Palast zu pulsierendem Leben erweckt. Solange ich mein Herz unter sein Amt stelle und ihn im Mittelpunkt meines Herzens Platz einräume, ist alles gut.
Der Schmerz
„Ich wusste, dass Du kommst,“, flüstere ich. In mir ist alles schwarz und rot und wund: „und sie hatten Recht: Niemand ist auf Dich vorbereitet und es ist noch schlimmer als gedacht“.
Er umklammert mich wie ein Schraubstock. Hat ganz von mir Besitz genommen. Ich versuche mich zu winden, aber er hält mich gefangen.
„Lass das sein“, sagt er gütig aber bestimmt: „wehre dich nicht gegen mich!“. –
„Aber es tut weh“, empöre ich mich. „Ich bekomme keine Luft.“ –
„Das wird schon,“ erklärt er mit ruhiger Stimme: „je weniger Widerstand du leistest, umso leichter wird es“. – „Nein, verschwinde“, erzürne ich mich: „ich werde dich ignorieren. Oder verdrängen oder in einem Glas Wein ertränken, vielleicht auch in zwei oder drei, oder etwas Stärkerem, wenn nötig“.
Er lacht. Und wirkt kein bisschen überrascht. Vermutlich hört er das alles nicht zum ersten Mal. Dann erklärt er mit ruhiger Stimme: „Wir werden von nun an einige Zeit gemeinsam verbringen Es wird Momente geben, da nimmst du mich kaum wahr und dann wieder werde ich dir … schmerzlich bewusst.“
Mir steht nicht der Sinn nach Scherzen und Wortspielen: „mir ist kalt“, beschwere ich. – „Das gehört dazu“. –
„Mir ist übel“. – „Das gibt sich“. Ich fühl mich taub und blind und leer: „Du engst mich ein. Ich will das nicht!“.
Ich möchte, würde um mich schlagen, wenn ich könnte, aber sein fester Griff ist unnachgiebig. Ihn treten, kratzen, beißen und zur Hölle schicken, denn von dort scheint er gekommen zu sein. Ich bin bewegungsunfähig. Aber anschreien kann ich ihn noch: „Alles soll wieder so sein, wie zuvor!“.
Heiße Tränen kullern mir über die Wangen, ich kann sie nicht aufhalten, während sich mein Körper wie von Krämpfen schüttelt, vielleicht ist es aber auch er, der erbarmungslos an jeder Faser von mir zerrt und rüttelt. Mir ist heiß und kalt zugleich und, während ich erneut um Atem ringe, beschreibt er mir: „Es wird nie wieder sein wie zuvor! Es wird anders werden, das verspreche ich Dir! Wenn du mich annimmst, zeige ich dir den Weg dorthin. Erst werde ich dich begleiten; Versöhnlichkeit und Annahme werden uns begegnen, dann nehme ich mich Stück für Stück zurück und übergebe dich an Erfahrung, Dankbarkeit, und Erinnerung. Später werde ich nur noch selten, nur hin und wieder, nach dir greifen“. „Warum tust du mir das an?“, entrüste ich mich und presse tränenerstickt hervor: „Warum tut es so weh?“.
„Die Liebe hat dich mir übergeben. Ich halte dich fest. Das ist meine Aufgabe. Je größer die Liebe, die Enttäuschung, der Verlust, desto stärker werde ich dich halten. Ich muss Dich umklammern, damit du, damit dein Herz nicht auseinanderbricht. Ich werde dich umfassen, solange es nötig ist. Deine Aufgabe ist es, Dich mir zu stellen, meine Enge zu ertragen. Nicht meinetwegen, sondern der Liebe wegen. Das schuldest du ihr.“ – „Der Preis ist zu hoch!“. widerspreche ich trotzig. „Findest Du? War es nicht jeden Augenblick wert?“ Ich versuche den bitteren Geschmack herunterzuschlucken. „Ich glaube nicht, dass ich dich aushalten kann“. – „Doch“, weiß er: „Du wirst! Der Liebe wegen“.
Gewohnheitstier
Die Gewohnheit ist zu Besuch. Sie lümmelt auf dem Sofa. Eine halbleere Tüte Chips neben sich. „Komm‘, setz‘ dich zu mir“, ruft sie mir schmatzend zu. „Haben wir noch etwas von dem leckeren Wein von gestern Abend? Wir könnten einen Film ansehen und uns einen gemütlichen Abend machen.“ Das klingt verlockend und ich setze mich zu ihr. Viel Platz lässt sie mir nicht. Ich schaue sie mir genauer an. So ist sie mir noch nie aufgefallen. Etwas aus der Form geraten ist sie. Bequem geworden. Sie reicht mir Süßigkeiten, noch bevor ich darum bitte. Wie ein eingespieltes Team agieren wir. Erst jetzt realisiere ich, dass sie wieder einmal meine Lieblingsringelsocken trägt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, sie eingeladen zu haben. Neuerdings ist sie ständig hier. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber inzwischen treffe ich sie öfter, als es mir lieb ist. Auch an ungewohnten Orten. Selbst im Bad lässt sie sich gehen. Neulich traf ich sie, als ich die Kühlschranktür öffnete. Jetzt reicht es!
Ich versuche etwas Abstand zu erlangen und flüchte. Drehe eine Runde um den Block und tatsächlich scheint sie gegangen zu sein, als ich zurückkomme. Ich atme auf und schenke mir freudig ein Glas Wein ein. „Wo warst du denn?“. Ich zucke zusammen. Hinterrücks hat sie sich wieder an- und eingeschlichen. „Wir müssen reden“, sage ich, „es ist nett mir dir und meistens fühle ich mich auch wohl mit dir, aber ich denke es ist an der Zeit, etwas Veränderung zuzulassen.“
Die Gewohnheit wird blass, denn Veränderung kann sie nicht leiden. Wie Erneuerung und Wandel passen sie nicht recht zu ihr und sie gehen sich möglichst aus dem Weg. „In Ordnung“, sagt die Gewohnheit grinsend und nimmt ihren Hut von der Garderobe: „Wenn dir die Veränderung guttut und sich bewährt, dann sehen wir uns wieder“.
ARGUMENTE !?
„Ich habe meine Gründe“, erbost sich die Wut.
„Ich bin im Recht“, weiß die Missgunst.
„Es gibt ausreichend Anlass“, trotzt die Verletztheit.
„Es muss sein“, stichelt der Schmerz.
„Selbst schuld“ ereifert sich die Schadenfreude.
„Es ist doch offensichtlich“, behauptet die Heuchelei.
„Meine Argumente sind stichhaltig“ zetert die Rache.
„Ich habe Beweise“, pocht die Rechthaberei.
„Dieses Mal bin ich dran“, wimmert die Eifersucht.
„Darum!“, nörgelnd der Neid.
„Es ist nur fair“, meint die Selbstgerechtigkeit.
„und längst fällig“, argumentiert die Verbitterung.
„Ihr Lieben!“,
sanftmütig breitet sie ihre Arme aus:
“Kommt zu mir und betrachtet alles mit meinen Augen!“,
spricht die Liebe.
Sommerregen
Völlig unerwartet
an diesen Punkt gekommen
kein Ausweg
keine Perspektive
oder doch?
Fragen über Fragen
und die Flucht
in meine Träume
In meiner Fantasie
tanz ich
mit dir
im warmen Sommerregen
Blick in den Spiegel
Meine Werte,
meine Überzeugungen
meine Ansprüche,
denen ich nicht mehr gerecht werde
Wo
bin ich?
Was ist schon richtig?
Und was ist falsch?
Und wie kann etwas Falsches
sich so richtig anfühlen?
Mein Kopf
Mein Herz
Ich mittendrin
Habe ich dich gefunden?
Oder nur mich verloren?
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